Ansturm der Armen.

18.02.2009 19:17

DER SPIEGEL 11/2008.

Fast 800 000 Menschen versorgen sich inzwischen kostenlos bei den Filialen der Deutschen Tafel. Doch manche nutzen das System auch aus.

Die letzten Meter führen über einen holprigen Bürgersteig, vorbei an Hauswänden voll wirrer Graffiti. Etwa 300 Menschen haben sich an diesem Morgen in einer Nebenstraße im Dortmunder Norden vor einem grauen Rolltor aufgebaut: Rentner, die sich verschämt umschauen, Mütter, an deren Hosenbeine sich kleine Kinder klammern. Sie alle haben Hartz-IV-Papiere, Rentenbescheinigungen oder Lohnabrechnungen mitgebracht. Sie weisen damit ihre Bedürftigkeit nach.

Hinter dem Rolltor ist eine Filiale der Dortmunder Tafel eingerichtet. Unter den Wartenden herrscht leichte Nervosität; es hat sich herumgesprochen, dass heute nur 150 Berechtigungsausweise ausgestellt werden - mit dem begehrten Dokument kann man hier einmal die Woche eine Tüte mit kostenlosen Lebensmitteln in Empfang nehmen.

Als sich das Tor öffnet, setzt ein mächtiges Drücken und Rempeln ein, einige geraten ins Stolpern, Kinder weinen, ein Mann rammt seinem Nachbarn den Ellenbogen ins Gesicht. Das Rolltor wird wieder geschlossen. Vier Polizisten sind herbeigeeilt, um für Ruhe zu sorgen in der Menschenmenge.

Deutschland im Jahr 2008. Dem Pensionär Jürgen Schmidt, 69, NRW-Koordinator der Tafel, gehen solche Vorfälle noch immer nahe. Traurig, beschämend, eigentlich unglaublich sei es, "wie die Bedürftigen uns in Dortmund die Bude einrennen". Doch der ehemalige Verkaufsleiter kennt die Zahlen. Der Ansturm der Armen, den er in der Ruhrpott-Metropole erlebt, ist typisch für das ganze Land. Allein die bundesweit 1500 Ausgabestellen der Tafeln vermelden mittlerweile fast 800 000 Kunden. In Städten wie Hamburg und Bochum hat sich die Zahl der Menschen, die sich bei den Umsonst-Anbietern versorgen, in nur einem Jahr sogar nahezu verdoppelt.

Gestartet als Feierabend-Initiative einiger sozial engagierter Frauen, ist die Deutsche Tafel damit zum kundenstärksten Filialisten der deutschen Reste-Republik geworden. Ob im geschundenen Ruhrgebiet oder in Regionen wie dem Kreis Freising, wo weniger als fünf Prozent der Menschen arbeitslos sind: Tafeln, Sozialkaufhäuser und Kleiderkammern haben sich allerorts zu wichtigen Säulen des Unterhalts entwickelt. Sogar Tier-Tafeln werden neuerdings gegründet, um klammen Hundehaltern Gratisfutter zu bescheren.

Das Netz der kostenlosen oder extrabilligen Versorgung hat sich längst so verdichtet, dass in ihm eine Subgesellschaft heranwächst: Sie lebt vom Überfluss der anderen, sie verbraucht, was Durchschnitts- und Gutverdiener nicht rechtzeitig verzehren, nicht mehr anziehen, nicht mehr hinstellen wollen.

Annemarie Dose, eine der Pionierinnen der deutschen Tafel-Bewegung, ist mittlerweile 50 Stunden pro Woche unterwegs, um ihre Kunden versorgen zu können. Am ehesten erwischt man die 79-Jährige morgens um neun Uhr, wenn sie mit ihren engsten Vertrauten im Zentrallager der Hamburger Tafel zur Lagebesprechung am Konferenztisch Platz nimmt.

Als ihr Mann vor 13 Jahren starb, habe sie die Wahl gehabt: sich "im Rotwein zu ertränken" oder etwas "Sinnvolles" zu tun, sagt Frau Dose. Sie entschloss sich, bei den Supermärkten in der Nachbarschaft abends Obst und Gemüse einzusammeln, das tagsüber keine Abnehmer gefunden hatte.

Anfangs als "Müllsammlerin" verspottet, steuert sie nun weit über hundert Ehrenamtliche - meist Rentner, Arbeitslose oder Menschen mit Halbtagsjobs, die nebenbei helfen wollen. Mit Bullis, Kleinlastern und Kühlfahrzeugen, die von Spendengeldern gekauft wurden, karren die Tafel-Mitarbeiter jeden Monat etwa 185 Tonnen Lebensmittel für etwa 20 000 Bedürftige zusammen.

Bei den Kaufleuten tritt Annemarie Dose längst nicht mehr als Bittstellerin auf, eher als Geschäftspartnerin. Etwa 70 000 Euro spart ein Supermarkt durchschnittlich jedes Jahr ein, wenn er Waren, die bald ablaufen, an eine Filiale der Tafel verschenkt. Ohne die agile Seniorin und deren Kollegen hätten Händler und Hersteller die Kosten für eine Entsorgung nach strengen EU-Richtlinien aufzuwenden.

Nach der Besprechung macht Annemarie Dose einen schnellen Rundgang durchs Warenlager. Sie inspiziert die neueingetroffenen vier Tonnen Käse, deren Rinde bei der Produktion etwas zu dunkel ausgefallen war. Dann flitzt sie in den Keller, nimmt auf der Treppe zwei Stufen gleichzeitig. Im "süßen Raum" biegen sich die Regalböden unter dem Gewicht mehrerer Kisten voller Mini-Nikoläuse von Lindt, die zum Weihnachtsfest nicht rechtzeitig verkauft werden konnten.

"Die Bedürftigen wissen schon lange, welch gute Waren wir verschenken", sagt Dose. Scham und Scheu sind passé. Was früher als Akt der Verzweiflung galt, sei salonfähig geworden.

Elke Heiler, 31, und ihre Freundin Stefanie Sokolai, 25, gehen seit einem Jahr regelmäßig zu einer Ausgabestelle im Hamburger Norden. "Am Anfang war das schon eine Überwindung", bekennt Heiler. Weil sich mittlerweile aber auch viele Freunde mit den Umsonst-Lebensmitteln eindecken, habe sie "keine Probleme mehr damit". Sokolai schickt ihre beiden Kinder zusätzlich zweimal die Woche in ein Kinderrestaurant, wo es eine Gratismahlzeit "mit Vorspeise und Dessert" gebe. Das Leben mit Hartz IV sei so "schon etwas leichter" geworden, sagt sie.

Noch reicht der Überfluss der einen, um die anderen damit zu versorgen. Doch es scheint absehbar, dass der Run auf die Umsonst-Einrichtungen manche Filialen überfordert. "In einigen Orten sind wir schon jetzt fast am Limit", sagt Sabine Werth. Die 51-Jährige darf sich als Mutter der Bewegung bezeichnen. 1993 brachte sie die Idee der amerikanischen Organisation "City Harvest" nach Deutschland - und legte damit den Grundstein für die deutsche Tafel-Landschaft.

Die Chefin der Berliner Tafel steht in ihrem Büro vor einer Deutschlandkarte. Überall dort, wo eine Nadel steckt, gibt es eine Tafel-Filiale. Die Karte gleicht einem Nadelkissen. Doch noch immer werden jede Woche durchschnittlich ein bis zwei neue Dependancen gegründet. Das hat mancherorts zur Folge, dass unterschiedliche Tafel-Ableger um dieselben Supermärkte und Lebensmittelproduzenten buhlen.

In Berlin gibt es 13 Organisationen, und keine weiß von der Konkurrenz, welche Kunden dort in der Schlange stehen. Für Werth kommt das einer Einladung zum Missbrauch gleich. Denn so sei es problemlos möglich, ein unanständiges Geschäft aufzuziehen: von einem Anbieter zum anderen laufen, überall Gratislebensmittel einsammeln - und dann die Überschüsse zu Geld machen.

Das System der kostenlosen Hilfe, pflichtet die Hamburgerin Dose bei, sei anfällig. Wer nicht aufpasse, werde ausgenutzt, beklagte sie kürzlich in einem Bericht des "Hamburger Abendblatts". "Richtig zornig" ist sie zum Beispiel über all die Eltern, die "wie selbstverständlich" die Versorgung ihrer Kinder fast komplett der Tafel überließen. Und mit dem Geld, das sie dadurch sparten, könnten sich die Erwachsenen dann "einen neuen Fernseher oder anderen Mist" kaufen.

Und so ist unter den Tafel-Verantwortlichen derzeit eine ernste Diskussion im Gange: Tragen sie dazu bei, dass sich die Menschen einrichten in ihrer Not? Und: Wird die Tafel immer mehr zum Erfüllungsgehilfen für Sozialabbau? Denn wie selbstverständlich machen mittlerweile auch Arbeitsagenturen auf die Leistungen von Tafeln und Sozialkaufhäusern aufmerksam.

Manfred Baasner, 64, nimmt dem Staat seit einiger Zeit nicht nur die Versorgung etlicher hungriger Schüler und Kindergartenkinder ab. Der Frührentner mit dem dichten Schnurrbart hat die Bochumer Tafel innerhalb von acht Jahren zu einem Sozialkonzern ausgebaut - mit Warenhaus, Sprachschule, Näherei und etwa 20 000 Kunden.

Baasner arbeitet "14 Stunden am Tag", sein Handy klingelt ständig. Auf der Ledercouch in seinem Büro sitzen regelmäßig hochrangige Gäste aus Politik und Gesellschaft. Und weil Baasner bei solchen Gelegenheiten viel darüber spricht, wie sehr er die Bedürftigen entlastet, rief er das Bochumer Sozialamt auf den Plan. Denn plötzlich kam ein Mitarbeiter der chronisch klammen Ruhrstadt auf die Idee, den Gegenwert der Tafel-Präsente auf die staatlichen Leistungen der Beschenkten anzurechnen. Erst als sich Baasner bei der Landesregierung beschwerte, ließ die Behörde ab.

Die Sache ist heikel. Zwar erklärte auch Arbeits- und Sozialminister Olaf Scholz (SPD) jüngst, die Bundesregierung werde das Thema der Anrechenbarkeit vorerst nicht weiterverfolgen. Doch es scheint nur eine Frage der Zeit, bis es wieder auf den Tisch kommt. Denn die Bundesagentur für Arbeit erlaubt nur Lebensmittelspenden in "geringwertigem Umfang". Was die Umsonst-Angebote angehe, "sind wir mancherorts aber fast auf dem Weg in die Grundversorgung", glaubt Tafel-Gründerin Werth.

Der Bochumer Tafel-Chef Baasner zweifelt trotz der Schattenseiten seiner ehrenamtlichen Arbeit nicht an deren Sinn. Er läuft durch seine Halle und zeigt auf einen symbolischen Scheck, der groß ist wie ein Fernseher und an einer Wand vor dem Konferenztisch lehnt. "8900 Euro" steht darauf.

Das Geld hätten die Mitarbeiter eines Bochumer Betriebs Ende vergangenen Jahres gesammelt, berichtet Baasner. Wenige Tage später erfuhren die Wohltäter, dass ihr Werk geschlossen wird - es waren Beschäftigte von Nokia. Einige, die vor Weihnachten spendeten, hätten sich inzwischen erkundigt, wie man Kunde werden könne bei der Bochumer Tafel. GUIDO KLEINHUBBERT.

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