Die Botschafterin des Überflusses.

25.05.2013 20:30

Vor 20 Jahren gründete Sabine Werth die Berliner Tafel trotz aller Widerstände wurde das Projekt eine Erfolgsgeschichte.

Berliner Tafel VON GABI STIEF Berlin. Sie ist klein und drahtig; die blonden Haare sind kurz geschnitten. Sie wirkt jünger als sie ist, jünger als 56 Jahre. Sie lacht gern; und dann strahlt das ganze Gesicht. Statt Kostüm trägt sie lieber Jeans und T-Shirt. Sieht so eine Frau aus, die ein Unternehmen gegründet hat, das mittlerweile 60 Mitarbeiter zählt? Die nebenbei auch noch eine Marke erfunden hat, die bundesweit kopiert wird? Die stolz ist, dass sie vor ein paar Jahren nicht nur das Bundesverdienstkreuz, sondern auch den Verdienstorden des Landes Berlin bekommen hat?



Die Frau heißt Sabine Werth und man trifft sie auf einer Büroetage in einer der weitläufigen Hallen auf dem Berliner Großmarkt, zwischen Fischkisten und Gemüseständen. Derzeit steckt sie in Festvorbereitungen. Im November wird groß im Schöneberger Rathaus Geburtstag gefeiert, denn eine Idee namens „Berliner Tafel" wird in diesem Jahr 20 Jahre alt. Die Geschichte der Gründung ist schnell erzählt.

Vor 20 Jahren war Sabine Werth Mitglied einer Frauengruppe, die sich der Wohltätigkeit verschrieben hatte. Nach einem Vortrag über die Probleme der Wohnungslosen in Berlin gründete die studierte Sozialpädagogin und Chefin einer eigenen Agentur für Familienpflege kurzentschlossen einen Verein, der nach dem Vorbild einer New Yorker Initiative in Läden und Restaurants nicht verbrauchte Lebensmittel einsammeln sollte, um sie anschließend an Bedürftige zu verteilen.

Damals, als Sabine Werth begann, die Berliner Bäckereien abzuklappern, gab es noch verdutzte Nachfragen: „Wat denn für 'n Müll? Wir haben nur ein paar Reste, die in die Tonne gehören!" Auch gab es noch keine Verbraucherschutzministerin, die Lebensmittelverschwendung als Thema erkannte.

1993? Da titelte einzig die Zeitung „Neues Deutschland" entsetzt „Armut erdrückt ganze Hamburger Wohnviertel". Wissenschaftler wurden belächelt, wenn sie Zahlenkolonnen über die Reichen und Armen im Land präsentierten. Der Verein das waren sechs Frauen, die abwechselnd einmal in der Woche mit dem Privatauto das liegengebliebene Brot vom Vortag in den Läden abholten und kostenlos an 23 Obdachlosentreffs in der Stadt, weitgehend im Westteil Berlins, weitergaben.

Ihr Wunsch: Den Überfluss verteilen. Er erfüllte sich. Das ehrenamtliche Start-up-Unternehmen einer kleinen Gruppe von Gutmenschen entwickelte sich schnell zum Großbetrieb für bürgerschaftliches Engagement, finanziert ausschließlich aus den Beiträgen von aktuell 1600 Mitgliedern und Spenden. 23 Festangestellte, mehr als zwei Dutzend Helfer, die vom Jobcenter bezahlt werden, und mehr als 1000 Ehrenamtliche, gehören heute zur „Berliner Tafel".

16 Teams sind wochentags mit den vereinseigenen Transportern in Berlin unterwegs, um in Hunderten Supermärkten fast aller großen Einzelhandelsketten Lebensmittelreste abzuholen und bei 320 sozialen Einrichtungen und 45 Ausgabestellen namens „Laib und Seele" abzuliefern. Allein die Logistik, von der Tourenplanung bis zum Sortieren der gespendeten Ware, verlangt vollen Einsatz. 660 Tonnen Essbares wird an 125000 Berliner jeden Monat verteilt.

Zur Wahrheit gehört aber auch seit den Gründerjahren ist das Projekt umstritten und die Kritiker sind fast so gut organisiert wie die Tafel selbst. Unterstützt wird das „Kritische Aktionsbündnis" neuerdings sogar von der Diakonie der evangelischen Kirche, die die Tafeln als Lückenbüßer für eine mangelhafte sozialstaatliche Sicherung geißelt.

Andere sprechen von einem modernen Ablasshandel. Arme Menschen würden ruhig gestellt, zur Faulheit verführt. Die Politik werde entlastet, Großkonzerne sparten Entsorgungskosten. Sabine Werth hält dagegen: „Wir unterstützen Bedürftige, wir versorgen sie nicht." Ganz bewusst habe man in den 20 Jahren auf staatliche Zuschüsse verzichtet, um sie niemandem wegzunehmen. Mit Absicht aber auch weil es die Bundesabgabenordnung verlange, werde jeder Kunde bei der jeweils zuständigen Abgabestelle registriert und auf seine finanzielle Bedürftigkeit überprüft.

Während die Tafel-Gegner den Namen „Kunde" für zynisch halten, spricht Sabine Werth von einem Begriff der Wertschätzung. Während die Kritiker den symbolischen Preis von einem Euro für die wöchentliche Lebensmittelration für würdelos halten, sagt Sabine Werth: „Das Essen ist damit mehr als nur ein Almosen."

Es sind Grundsätze, die unvereinbar sind, vor allem im streitsüchtigen Berlin. Als sich kürzlich ein Gewerkschafter bei einer Veranstaltung beschwerte, dass er seit fünf Jahren für die Renovierung der Kita im Kiez vergeblich kämpft, hat Sabine Werth ihn gefragt, warum er nicht selbst aktiv wird. „Ich würde Spender für die Farbe suchen und die anderen Eltern am Wochenende zum Streichen in die Kita einladen", sagt sie. Es sei richtig, der Politik auf die Füße zu treten. „Aber man kann Gutes tun und trotzdem den Staat anklagen" Viele sehen das genauso. Werths Verein hat mittlerweile 909 Ableger in fast allen großen deutschen Städten.

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