Die Scham der Armen.

04.07.2013 08:42

Millionen Deutsche verzichten auf Hartz IV, obwohl sie Anspruch darauf hätten: Warum lehnt fast jeder Dritte Hilfe ab?

NDZ/VON THORSTEN FUCHS Hannover. Erst mal verkaufte sie ihre Eheringe. Sie hing an den Ringen, natürlich, sie und ihr Mann hatten sie ja ihr Leben lang getragen. „Aber was", fragt Johanna I., „sollte ich denn machen?" Als nächstes löste sie die Konten für die Enkel auf. Sie sind ja noch klein, sagte sie sich, sie könne ja später wieder etwas sparen. Sie aß tagelang mittags nur Kartoffeln mit Soße, trug weiter die längst fadenscheinigen Pullover und schlief ihn ihrem durchgelegenen Bett. Die 71-jährige Johanna I. sparte selbst da, wo es eigentlich schon längst nichts mehr zu sparen gab. /um Amt zu gehen, erzählt die frühere Verkäuferin aus Hannover, das sei ihr gar nicht in den Sinn gekommen.

Dann lieber selbst durchschlagen: Bis zu 4.9 Millionen Deutsche haben laut einer neuen Studie Anspruch auf Sozialleistungen - und lassen diese verfallen.

„Mir liegt das halt nicht so", sagt sie mit leiser Stimme. Was ihr nicht so liegt, spricht sie gar nicht erst aus, so unangenehm ist es ihr. „Das", das heißt: Um Geld zu bitten. Sich in die Schlange der Bedürftigen einzureihen. Seine Not einzugestehen.

Johanna I. lebt im sechsten Stock eines Wohnblocks am Rand der niedersächsischen Landeshauptstadt. Dass sie arm ist, hat sie jahrelang nach Kräften verborgen. Ihre Rente reichte gerade, um die Raten für die Bestattung ihres Mannes abzustottern. Sozialleistungcn hat sie dennoch nie beantragt. Warum nicht? Vielleicht, sagt Johanna L, weil sie sich an das alte Leben noch erinnere. An jenes Leben, in dem ihr Mann sein kleines Unternehmen hatte, Gebäudereinigung. Manchmal machten sie Urlaub in Florida. „Das kann man doch nicht einfach abstreifen" sagt sie über das alte Leben.

Das Wort „Scham" spricht sie nicht aus. Aber es schwebt über allem, was sie erzählt. Und diese Scham ist wohl auch eine wichtige Erklärung für jene Zahl, die das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung jetzt veröffentlicht hat: Demnach verzichtet mehr als jeder Dritte, der eigentlich einen Anspruch auf Hartz IV oder generell Sozialleistungen hätte, darauf, diesen Anspruch auch anzumelden. Zwischen 3,1 und 4,9 Millionen Menschen, so besagt es eine neue Studie des Instituts, leben in Deutschland in sogenannter verdeckter Armut. Es ist fast wie Sozialmissbrauch, nur anders herum: Den Menschen steht Geld zu sie holen es nur nicht ab.

Marlis Winkler gehört zu jenen, denen dieses Phänomen wohlbekannt ist und doch steht sie ihm hilflos gegenüber. Gerade am Morgen hatte die Geschäftsführerin des Diakonischen Werkes Syke-Hoya/Grafschaft Diepholz Besuch von einer jungen Mutter, die dabei ist, sich vom Vater ihres Kindes zu trennen. Auf den Vorschlag, demnächst beim Jobcenter Arbeitslosengeld II zu beantragen, reagierte sie, vorsichtig gesagt, eher ablehnend. „Ist das da, wo immer die langen Schlangen stehen?", fragte sie entsetzt. Es ist unklar, ob und wann sie diesen Antrag stellen wird. „Mit wenig Geld zu Aldi oder kik zu
gehen, das ist für die meisten noch in Ordnung", sagt Winkler. „Aber wer zum ersten Mal zum Sozialamt oder zur Tafel geht, der fühlt sich oft, als gehöre er jetzt zur anderen Seite." Zur Seite der Armen.

„Die versteckte Armut ist auf dem Land noch größer als in der Stadt."

Winkler hat sich mit der verdeckten Armut in Niedersachsen intensiv beschäftigt. Am Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD in Hannover hat sie in einer Studie die Armut auf dem Land untersucht. Die Ergebnisse bergen für das Flächenland Niedersachsen nichts Beruhigendes: „Die Dunkelziffer der Armut ist im ländlichen Raum noch größer als in der Stadt."

Die Erklärung wirkt nur auf den ersten Blick paradox: Es ist gerade die Nähe der Menschen zueinander, ihre Bekanntheit untereinander, die sie davon abhält, sich als arm zu offenbaren. In den Interviews, die sie unter anderem in Ostfriesland und im Wendland führte,
hörte Winkler jedenfalls immer wieder Sätze wie diesen: „Ich kann nicht zum Amt gehen! Da sitzt schließlich der Schwager von unserem Nachbarn, und der kennt mich doch." Was sonst ein Vorteil des Lebens auf dem Dorf ist, erschwert hier die Hilfe.

Winkler kennt noch einen weiteren Grund für den Verzicht auf Hartz IV: die sprachlichen und bürokratischen Hürden. Rund 700 Änderungen hat das Sozialgesetzbuch II seit seiner Einführung 2005 erfahren. Für den Laien bleibt vieles rätselhaft: „Da ist vieles unverständlich und abschreckend." Die Informationen über Hartz IV müssten verständlicher werden, fordert sie. Aus Sicht von Sebastian Bostel, Vorstand des Paritätischen Niedersachsen, reicht dies jedoch längst nicht. Für ihn folgt aus den Zahlen zur verdeckten Armut vor allem eines: eine Erhöhung des Hartz IV-Satzes.

Tatsächlich birgt die Studie des IAB auch politische Brisanz. Der Grund ist die Art, wie der Hartz-IV-Satz berechnet wird. Als Maßstab gelten im Moment die Ausgaben der untersten 20 Prozent der Bevölkerung. Die Hartz-IV-Bezieher werden dabei nicht berück-
sichtigt diejenigen, die Hartz IV beantragen könnten, es aber nicht tun, werden jedoch mit hineingerechnet. Ihr niedriges Einkommen drückt so den Hartz IV-Satz nach unten. Das Bundesverfassungsgericht hatte diese Praxis bereits kritisiert und eine „Verfälschung der Datenbasis" bemängelt und so tut es nun auch der Vertreter des Paritätischen. Für ihn ist deshalb folgerichtig: „Die Sätze müssten eindeutig steigen." Die Bundesregierung lehnt eine Änderung der Berechnungsart jedoch ab und damit auch die Erhöhung.

Johanna I., die frühere Verkäuferin aus Hannover, hat sich inzwischen überwunden. Als sie längst schon Schulden drückten und sie auch die Raten an den Bestatter nicht mehr bezahlen konnte, wandte sie sich schließlich doch an das Sozialamt. Die 71-Jährige hat Hilfe erhalten. Sie hat ein anderes Bett und nun immerhin wieder das Geld, um mit der Stadtbahn die Enkel zu besuchen. Ganz geheuer ist ihr alles aber immer noch nicht. „Es ging halt nicht mehr anders", sagt sie. Noch immer klingt sie dabei, als würde sie sich für den Gang zum Amt am liebsten entschuldigen.

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